An einem frischen Aprilmorgen fahren Samuel und ich nach Witzenhausen, um zu dieser Jahreszeit die Pracht der Kirschblüten zu bewundern. Eigentlich wollen wir dort Bea zum Wandern treffen, doch
wie der Zufall es will, sind auch Freunde von uns aus Kassel hier, um die Kirschblüten mit ihren E-Bikes zu erkunden. Die Stadt Witzenhausen hat im Rahmen des Geo-Naturparks Frau-Holle-Land
diverse Wege angelegt, die man gehen oder fahren kann, um sich an den Blüten sattzusehen. Während wir später den Kirschwanderweg 1 von Wendershausen nach Sulzberg gehen wollen, fahren unsere
Freunde den Kirschradweg. Zuerst aber treffen wir uns zum Frühstück, um diesen lustigen Zufall gebührend zu feiern. So früh am Morgen hat in Witzenhausen nur das Mannamia offen. Dort gibt es am
Samstag ein Frühstücksbuffet, das, wer hätte es gedacht, vor allem mit viel Wurst- und Fleischwaren aufwartet. Veganer kämen hier nicht auf ihre Kosten.
Zu viert sitzen wir, reden und schlemmen, während es draußen immer sonniger wird. Also geben wir nach, zahlen und verabschieden uns draußen voneinander. Kaum sind die beiden auf ihren Rädern
davongefahren, biegt Bea zu Fuß um die Ecke. Die Wanderung kann beginnen!
Wir fahren mit dem Auto Richtung Wendershausen. Nicht ganz bis zum vorgeschlagenen Startpunkt, dem Wanderparkplatz, sondern wir biegen am Rande von Witzenhausen auf eine kleinere Straße ein, wo
wir die 8,5 km lange Tour starten wollen. Selbst hier, bei dem kleinen Parkplatz steht schon ein erster rosa blühender Baum und verheißt Schönes. Wir folgen dem gut ausgeschilderten
Kirschwanderweg 1 mit den beiden Kirschen als Symbol auf einem Schotterweg den Hang hinauf. Der kleine Anstieg bringt uns bereits so zum Schwitzen, dass wir Jacken und Pullover ausziehen und
zumindest ich im T-Shirt weitergehe. Zu unserer Linken tut sich die erste Kirschplantage auf. Weiß blühend stehen die Bäume in Reih und Glied im sattgrünen Gras zwischen gelben Tupfern von
Löwenzahn. Über ihnen türmen sich weiße Wolkenberge im babyblauen Himmel. In der Ferne erhebt sich flaches Hügelland, dunkler, bewaldeter.
Der Weg führt uns durch ein frühlingshaftes Stück Wald – das selbstverständlich hier im Frau-Holle-Land verwunschen ist, wie sich das gehört. Am Wegrand steht eine Hexe mit grünem Gesicht,
großer, krummer Nase und schwarzem Hut und beäugt uns skeptisch. Wir ziehen unerschrocken weiter auf dem Wanderpfad, der immer traumhafter wird und uns über Stock und Stein führt. Bald haben wir
das Waldstück wieder verlassen und schreiten entlang von weiten Wiesenflächen, auf denen friedlich die voll erblühten Kirschbäume wachsen. Auch die Tierwelt zeigt sich uns. Wir passieren ein
Alpaka-Gehege. Drei Alpakas beobachten uns entspannt von oben herab, und wir fragen uns, ob Alpakas eigentlich spucken können.
Je weiter wir gehen, desto befreiter fühle ich mich. Es ist so warm, der Himmel so blau. Und überall die weißblühenden Kirschen – es ist märchenhaft. Im Gras wachsen gelbe Schlüsselblumen und Bea
erklärt mir, dass diese heller sind und die seltenere, geschützte Varietät sind. Was ich alles nicht weiß! Inmitten der Kirschblüten verliere ich jedes Zeitgefühl. Es ist so leicht, dem Weg zu
folgen, einfach durch das Blütenmeer zu treiben – man muss gar nichts mehr denken. Manchmal bleibe ich vor den Bäumen stehen und sehe einfach nur die filigranen Blüten an, wie sie sich weiß in
den hellblauen Himmel recken.
Gerade, als wir loben, wie gut der Weg ausgeschildert ist, erreichen wir wieder ein Stück Wald. Wir haben die Wahl links oder rechts zu gehen – eine Wegmarkierung fehlt an dieser Stelle komplett.
Zwei andere Wanderer stehen auch ratlos an der Gabelung.
„Wir haben auf euch gewartet“, lachen sie, „und wollten sehen, wo ihr lang geht.“
Wir gehen nach links – folgen der Karte, die Samuel auf sein Handy geladen hat. Die anderen folgen uns nicht. Im Wald sind die Bäume lang und hoch. Es ist kühl und angenehm still. Samuel eilt
schnell voraus, wenn es bergauf geht, nimmt sein Tempo rasant zu. Ich gehe bewusst langsam, merke, dass ich nicht so durchhetzen will, sondern sehen, lauschen, wahrnehmen und fühlen. Bea lässt
sich auch zurückfallen und zu zweit folgen wir langsamer und gemütlicher, horchen auf unsere Schritte.
Dem Waldrand schließen sich sogleich wieder Kirschplantagen an. Mitten in diesem weißen Idyll weiden zwei dunkle Pferde. Eines hebt den Kopf, sieht zu uns herüber. Schweren Herzens lasse ich
diesen Anblick hinter mir und folge Samuel und Bea bergab. Links von uns türmen sich nun frische Holzscheite vor Kirschblüten in weiß. Ich kriege einfach nicht genug von diesen Bildern. Ich
klettere die Böschung hoch und fotografiere von hier oben Bea und Samuel, wie sie dastehen und mich anlachen. In Gesellschaft wandert es sich einfach gut.
Wir folgen dem Pfad und es fühlt sich an, als würden dir Kirschbäume am Wegrand immer üppiger blühen, ihre weiße Krone immer stolzer in den blau-weißen Himmel recken. Nachdem wir ein wenig bergab
gegangen sind, stoßen wir auch wieder auf die Wegmarkierung, die uns nun nach rechts wieder bergauf führt ins nächste Waldstück.
Schon bald eröffnet sich uns der bisher prächtigste Anblick. Ein ganzes Meer von Kirschblütenbäumen fließt einen saftig grünen Hang hinab. Der Blick ist hier weiter und die weißen Kronen der
Kirschen heben sich von den dunklen Hügeln in der Ferne ab. Hier würden wir gerne unser Picknick verspeisen, da gerade auch die Sonne besonders schön hervorkommt. Doch der schönste Platz ist
besetzt von einer großen Wandergruppe, so dass wir weiterziehen. Im Gras blüht überall das hübsche blassviolette Wiesenschaumkraut.
Wir gehen entlang der wunderschönen Plantage und erspähen hinter den Bäumen zwei Burgen auf zwei Bergen. Es handelt sich rechts um die Burg Ludwigstein und links um die Burg Hanstein. Was für ein
Anblick! Wir schlendern entzückt weiter. Ich bemerke, dass irgendjemand an den Ästen buten Ostereier aufgehangen hat, was mich seltsam freut. Hangab erwarten uns endlich wieder Bänke, auf die wir
uns nun setzen und brotzeiteln, unter anderem auch bunt bemalte Eier und einen gezuckerten Hasen – es ist nämlich Karsamstag. Wir beobachten, wie eine Familie hangauf kommt. Ein kleiner Junge
öffnet eines der hölzernen Bretter, die am Wegrand stehen.
„Wow!“, ruft er begeistert und wir fragen uns, was sich wohl in den Kästen verbirgt. Also stehen wir auf und sehen es uns selbst an. Hinter der ersten Klappe, die wir öffnen, verbirgt sich eine
Infotafel zum Thema Zuchterfolg der Kirsche. Die Kirschensorte Regina liefert wohl hohe Erträge und schmeckt besonders aromatisch. Deshalb dominiert sie seit langem den Markt. Diesen Erfolg teilt
sie sich mit Kordia – wie wir auf der nächsten Tafel erfahren. Schließlich kommen wir zu dem Schild, bei dem der Junge so begeistert gerufen hat. Wir sind ganz neugierig. Hinter dem Deckel
verbirgt sich ... ein Froschprinz! Der kleine, grüne Frosch trägt eine silberne Krone, lächelt uns zufrieden an und wir müssen alle laut lachen, weil es so schön ist, wie sehr ein Kind sich dafür
begeistern konnte. Außerdem lernen wir, dass die Bestimmung von Kirschsorten in der Pomologie, der Lehre der Arten und Sorten von Obst, ein schwieriges Feld ist und sich regional viele
verschiedene Namen für ein und dieselben Früchte entwickelt haben.
Bald sind wir am unteren Ende der Kirschplantage angekommen und blicken von hier auf Wendershausen. Auf dem nächsten Hang grasen inmitten von Kirsch- und Apfelbäumen Kühe und schauen uns aus
sanften Augen an. Eine kratzt sich gemütlich den Hals an einem Stamm. Hier könnten wir nun eigentlich auf einem ordentlichen Feldweg nach links die Tour beschließen, doch wir wollen noch nicht
zum Ende finden, gehen daher eine Extraschlaufe nach rechts. Im Blick haben wir wieder die beiden Burgen. Wir überqueren eine Straße, passieren den Wasserspielplatz Öhrchen, neben dem drei Schafe
weiden, und wandern dann noch ein Stück durch einen lichten Wald, ehe wir zur Werra gelangen. Am Fluss entlang laufen wir nun nach Wendershausen. Am Ufer blühen überall weißflockig
Traubenkirschen, die wunderbar duften. Wir ruhen noch einen kurzen Augenblick auf einer Bank aus, genießen die Sonne und den Zwei-Burgen-Blick. Dann folgen wir wieder dem Fluss, dessen Strömung
allmählich ruhiger wird. Der Pfad ist traumhaft. Zu unserer Rechten das Wasser, zur Linken Pferdeweiden, Hühnergehege, hübsche Gärten, sogar ein Brunnen – und wir schreiten über weiches Gras voll
wilder Blumen.
Wir durchqueren schließlich die Ortschaft und landen am anderen Ende bei einem Rapsfeld. Noch einmal können wir uns an den schönen Kirschplantagen erfreuen, ehe wir das letzte Stück Weg
erreichen, das uns zurück zu unserem Parkplatz führen wird. Ich werde ganz sentimental, so malerisch breitet er sich vor uns aus, führt uns entlang von Wiesen und Hügeln, durch lichte Wäldchen im
Spiel von Sonnenschein und Schatten. Der Weg, das Gras, der Waldboden, die Brennnesseln, alles ist weiß gesprenkelt mit kleinen Blüten. Ich laufe hinter Samuel und Bea, atme die frische Luft, bin
ganz still.
Zu guter Letzt kommen wir noch an Bienenkästen vorbei, wo es geschäftig summt. Und dann stehen wir wieder vor Samuels Auto. In der Stadt trinken wir einen Kaffee, fahren Bea zum Bahnhof – und
machen uns zu zweit auf den Weg nach Hause, den Anblick der Kirschblüten vor meinem inneren Auge.
Ich möchte still am Wege stehn
und möcht´ es Frühling werden sehn,
ich könnt´ noch immer wie ein Kind
bei jeder kleinen Knospe säumen!
Und klänge in den kahlen Bäumen
ein Vogeltriller … ach, ich könnt´,
mir einen langen Sommer träumen
voll Klang und Glanz und Sonnenschein
und glücklich sein!
(Cäsar Flaischlen)