Kea und ich wollen uns an der Tramhaltestelle Dennhäuser Straße im Kasseler Stadtteil Niederzwehren treffen, wo Dorothea Viehmann lebte, die bekannte Märchenfrau der Brüder Grimm. Um 14:04 Uhr
steige ich dort aus und suche sofort nach meiner Regenjacke, weil es doch recht frisch ist – nur um festzustellen, dass ich sie mit traumwandlerischer Sicherheit einfach zuhause habe liegen
lassen.
„Kea! Ich habe meine Jacke vergessen. Kannst du mir eine mitbringen?“, tippe ich in unseren Chat, weil Kea in Niederzwehren lebt. Vielleicht ist sie ja noch zuhause. Doch sie winkt mir bereits
fröhlich von der anderen Seite der Tramhaltestelle aus zu und ich laufe zu ihr hinüber. Wir umarmen uns, warten, bis die Ampel grün ist und halten am Beginn eines hübschen, verwunschenen Weges,
der uns aus der Stadt führen wird, erst einmal an. Wie es der Zufall will, hat Kea zwei Jacken dabei, von denen ich nun eine haben kann. Wie wunderbar wir uns ergänzen! Oder Kea mich
ergänzt.
„Ich denke, dass wir heute Kassel verlassen werden“, sage ich und Kea jubiliert. Sie ist in der Stadt nicht glücklich. Ich bin trotzdem froh, dass sie gekommen ist und wir heute zusammen eine
Teilstrecke des Märchenlandwegs gehen werden, einem 440 Kilometer langen Rund- und Fernwanderweg in Nordhessen, Südniedersachsen und Ostwestfalen. Sein Wanderzeichen, ein weißes M mit einem
Schlenker links unten, führt von meiner Haustür in Nord-Holland bis zu Keas nach Niederzwehren – und hinaus auf diesem netten Weg, der Grunnelbachstraße, ins Grüne, direkt am Grunnelbach entlang
nach Osten. Dieser wurde jüngst renaturiert, wie Kea mir erklärt, da sie die Strecke oft mit dem Rad fährt. Neben dem ursprünglichen Bachlauf wurde in Mäandern eine zweite Spur ausgehoben, durch
die das Wasser nun fließt. Was hiervon der Nutzen genau ist, bleibt uns leider schleierhaft, aber spannend ist es schon. Wie inmitten des Grüns das Wasser einfach im Boden versiegt und das
ehemalige Bachbett nur noch als brauner Erdstreifen zu sehen ist.
Ich finde den Grunnelbach irgendwie sympathisch. An seinem Ufer wachsen hohe, alte, knorrige Bäume; eine historische Steinbrücke schwingt sich malerisch an einer Stelle über ihn. Im Gras stehen
Pusteblumen und andere weiße Blüten. Besonders dominant sind jedoch die weiß blühenden Kastanien neben und über uns, die charakteristischen Birken dazwischen.
Dass wir uns noch immer in der Stadt befinden, zeigt sich daran, dass wir nun durch eine düstere Unterführung gehen müssen, durch die auch der Grunnelbach fließt. Kea erzählt aufgewühlt, dass
diese Stelle für Radfahrer unmöglich ist, weil sie oft überflutet ist. Die Wände sind mit Graffitis vollgesprüht. Wir machen Platz für eine vorbeifahrende Radfahrerin.
Nach der Unterführung geht der Weg wieder schön weiter. Wir kommen an einem Übungsplatz mit Schießscheiben, dem Bogenplatz Kassel, vorbei und folgen den Stickern des Märchenlandwegs. Eine blaue
Markierung verrät uns zudem, dass wir uns auch auf dem Dorothea-Viehmann-Weg befinden. Wir bewundern die dicken Pilze, die an den Bäumen wachsen, und treten dann in ein offeneres Gelände., das
ganz offensichtlich eine beliebte Gegend zum Spazieren ist. Radfahrer düsen an uns vorbei. Wir passieren Spaziergänger mit Hunden. Familien mit Kindern sind auch unterwegs. Das Wetter ist
mittlerweile wieder freundlicher geworden, so dass ich die Jacke wieder ausziehe. Ein blauer Himmel leuchtet über uns; weiße Wolken treiben gemächlich hindurch. Wir folgen dem Bach, an dessen
Ufer nun auch gelbe Tupfer das grüne Gras kontrastieren. Und dann endet unsere Reise entlang des Grunnelbachs, da dieser nun in die Fulda mündet. Adieu, Grunnelbach! Jetzt also gehen wir entlang
der Fulda, die uns nach Norden führt.
Wir folgen einem Feuerwehrauto und den jungen Feuerwehrmännern mit weißen Helmen, die hier irgendetwas am Machen sind, das wir wieder nicht verstehen. Ich brauche auch eine ganze Weile, ehe ich
erkenne, dass sie im Wagen keine roten Backsteine transportieren, sondern dass das der x-mal gefaltete Wasserschlauch ist, der darin liegt. Irgendwann überholen wir sie schließlich, waten
vorsichtig durch die große Pfütze, in der das Auto steht. So viele kleine Rätsel des Alltags. Die gesamte Mannschaft biegt, nachdem wir sie überholt haben, fröhlich nach rechts ab, wo wohl ein
Fest stattfindet und alle gute Laune haben.
Wir gehen weiter, entlang der Kastanien, während der Himmel sich ein wenig verdüstert, die Wolken grau werden. Wie prächtig die Kastanien blühen, auf einmal kirschrot! Und dann bricht ein Strahl
Sonne durch die graue Wolkendecke und fällt auf das Stück Wiese, umgeben von rotblühenden Kastanien. Ein Anblick, der mich träumen lässt.
Wir passieren den Kassel Camping- und Wohnmobilplatz und überqueren nun auf der Damaschkebrücke die Fulda. Kea und ich machen ein Selfie mit Fulda im Hintergrund. Glücklich schauen wir aus.
Entlang der Straße, und links von uns ein hübscher kleiner See, gelangen wir bald in das Gelände des Bugasees, wo alle Menschen und Tiere ein erholsames Wochenende verbringen. Kinder spielen im
Sand am Ufer des tiefblauen Wassers, Gänse ziehen majestätisch über die Wiesen und im Gras sprießen die Gänseblümchen. Sogar eine Schafherde können wir noch bewundern. Schillernde Stare fliegen
zwischen ihnen hindurch.
Das ist der Moment, wo ich aufhöre, wachsam zu beobachten und zu fotografieren, und mich einfach nur noch treiben lasse. Es ist Samstag. Hier sind Kea und ich, gehen und reden und sind
füreinander da. Eine Brücke führt uns über Schienen hinweg hinaus aus der idyllisch frühlingshaften Fuldaaue hinein in eine Kleingartenanlage. Zu unserer Linken fließt nun der Wahlebach, rechts
sind die vielen, schnuckeligen Gärtchen, zumeist völlig einsam. Wir queren auf die andere Seite des Bachs, reden über Tattoos und Piercings und längst vergangene Zeiten. Wo wir als nächstes
hingehen werden, nach Kassel, oder ob wir einfach hierbleiben werden. Kea will es eigentlich nicht.
Die Zeit vergeht wie im Flug. Nun spüren wir allmählich unsere Beine. Kea zaubert allerlei Snacks aus ihrem Rucksack, die wir gemeinsam verspeisen.
Schließlich verlassen wir den Wahlebach, queren nach rechts auf den Waldauer Weg und landen in Lohfelden – wir haben Kassel tatsächlich verlassen. Wieder führt der Weg durch eine Unterführung. An
die Wand gesprüht steht diesmal: „Kannst DU Lesen? Hier was für ALLE!: Erschreckend war es, als ich heut nacht aus dem Fenster sah! Der Himmel war ROT und GRÜN! Dabei sollte es eigentlich Dunkel
sein! Was ich sah, war das Blut und die Tränen unserer ERDE! Jeder kann das sehen!!!!!! Ihr müsst nur die Augen auf machen! Ändern wir nicht’s, gehen wir ALLE gemeinsam den Bach
Runter“.
„Dramatisch“, sage ich und Kea freut sich über den Pfeil, der unter „Runter“ noch hinab ins letzte Eck der Wand führt, wo kein Platz mehr war, etwas hinzuschreiben.
Wir gehen noch ein Stück entlang der grünen Alten Söhrebahntrasse und fallen dann erschöpft auf eine Bank, wo wir Tee und Wasser trinken.
Wir haben Kassel verlassen und sind bis nach Lohfelden gekommen. Lassen wir es für heute gut sein. Wenig später erwischen wir direkt den Bus bei der Haltestelle Parkstraße, der uns zurück nach
Kassel bringt.
Nur eine Stunde von Menschen fern,
Nur eine einzige Stunde!
Statt der tönenden Worte des Waldes Schweigen,
Statt des wirbelnden Tanzes der Elfen Reigen,
Statt der leuchtenden Kerzen den Abendstern,
Nur eine Stunde von Menschen fern!
(Auguste Kurs)